Kennen Sie das ? Manche Kinder wirken „außer Rand und Band „ und bringen ihre Eltern fast um den Verstand. Die Entwicklung auch in erzieherischen Haltungsfragen hat sich rasant verändert und es kann geschehen, dass im Supermarkt die Mutter das zweijährige Kind fragt, welcher Jogurt gekauft werden soll.
Das ist sicherlich ein zugespitztes Beispiel, macht aber deutlich, wie sehr sich die Ebenen Erwachsene/Kind verschoben haben zu Ungunsten der Kinder und deren Entwicklung.
Der bekannte (inzwischen verstorbene) Familientherapeut Jesper Juul hat zu Lebzeiten eine interessante Feststellung gemacht. Er sagte: „Kinder und Jugendliche, die angeblich ihre Grenzen ‚austesten‘, suchen nach der wahren Persönlichkeit ihrer Eltern. Sie wollen wissen, wer ihre Eltern eigentlich sind und wofür sie stehen.“ Das ist insofern interessant, weil es viele Eltern gibt welche sich nicht mehr trauen, ehrlich zu sagen, wenn sie z.B. gerade aktuell nicht mit dem Kind spielen wollen, sondern lieber die Zeitung fertig lesen wollen.
Die Befürchtung, dadurch könnte das Kind Schaden nehmen, ist nur dann zutreffend, wenn die Eltern nie mit dem Kind spielen. Eltern sollten zuallererst ihre eigenen Grenzen erkennen und diese auch gegenüber dem Kind wahren können.
Beim Thema ‚Grenzen setzen‘ meinen viele Eltern und Erwachsene immer, dass man den Kindern ihre Grenzen aufzeigen soll.
Jedoch ist es viel wichtiger, dass ich mir selbst verinnerliche, dass es, wenn es um Grenzen geht, es um meine Grenzen als Mutter oder Vater geht. Dann lernt das Kind früher oder später, sich auch um seine eigenen Grenzen zu kümmern.
Kinder brauchen authentische Eltern
Es geht in eigentlich allen Situationen, in denen ein Kind sich auffällig verhält, darum, dass die Eltern herausfinden müssen, was gerade nicht gut läuft in der Familie. Die Verantwortung für die Stimmung in der Familie und die Qualität der Beziehungen liegt immer bei den Eltern. Wenn Kinder „Grenzen testen“ ist dies keine böse Absicht, sondern schlicht ein Lernprozess- Kinder haben keine bösen Absichten.
Oft ist ihnen nicht einmal bewusst, dass sie uns mit ihrem Verhalten ärgern. Vielmehr kooperieren sie, indem sie durch ihr Verhalten zeigen: Hier stimmt etwas nicht. Wenn es um Grenzen geht, oder darum, dass sie von den Kindern überschritten werden, sind es daher die Eltern, die einmal überprüfen müssen, ob sie gut für ihre eigenen Grenzen eintreten. Wenn Eltern ihre eigenen Grenzen nicht klar aufzeigen, kann es leicht passieren, dass ihre Kinder sie gewissermaßen darauf hinweisen. Sie fordern geradezu, dass ihre Eltern sich echt und authentisch zeigen. Viele Kinder gehen dabei ihren Eltern so lange auf die Nerven, bis diese eine authentische, persönliche Sprache lernen und sich echt zeigen.
Das Kind will wissen: „Was ist hinter deiner Fassade? Du spielst die perfekte Mutter oder den perfekten Vater“. Und dann triezt das Kind die Mutter oder den Vater oder beide, bis derjenige authentisch aus der Haut fährt und diese Show nicht mehr aufrechterhalten kann.
Gerade das kleine Wort „Nein“ fällt Eltern schwer.
Der Familiencoach Mathias Voelchert, (Buchautor, „Liebevolle elterliche Führung“) welche eng mit Jesper Juul zusammengearbeitet hat, veranschaulicht dies anhand eines Beispiels (seine Angaben in kursiv):
„Angenommen, ein Elternteil hat sich gerade seine Zeitung geschnappt und es sich im Sessel gemütlich gemacht. Dann kommt das Kind und will mit ihm spielen. Aber wenn der Papa oder die Mama das eigentlich gerade nicht möchte, sondern viel lieber die Zeitung lesen möchte – schaffen es viele Eltern nicht, zu sagen: Ich lese jetzt meine Zeitung und du spielst.“
Wenn es den Eltern nicht gelingt, ihre eigene Grenzen klar auszudrücken, sondern hinter ihrer Zeitung vielleicht unschlüssig sind, ein schlechtes Gewissen haben, oder dgl. – wird das Kind weiter für sein Bedürfnis eintreten und die Eltern so lange triezen, bis es eine echte Reaktion bekommt.
„In den allermeisten Fällen passiert das, weil die Eltern eine Show machen. Sie zeigen sich nicht in ihrem wahren Sein. Sie legen die Zeitung weg und spielen dann doch mit dem Kind, wenn das Kind das gerade unbedingt möchte“.
Echte Beziehung entsteht durch authentische Haltung.
Ein Kind wird dadurch nicht vernachlässigt, außer vielleicht, wenn ich wirklich nie mit ihm spiele. Aber wenn ich normalerweise – wie die meisten Eltern – freundlich zugewandt bin und mit dem Kind spiele, aber jetzt gerade meine Zeit haben will, ist das in Ordnung. Dann darf ich das meinem Kind ruhig mitteilen.
Die Beziehung zu unseren Kindern leidet nicht, wenn wir in bestimmten Situationen „Nein“ sagen und dieses „Nein“ auch verteidigen. Eher das Gegenteil: Die Beziehung wächst, indem wir uns echt und authentisch zeigen.
So lernen unsere Kinder, dass es auch erlaubt ist, nein zu sagen. Dieser Lernprozess führt dazu, dass unsere Kinder uns dass dann auch früher oder später selbst sagen. Damit müssen Eltern klar kommen und es ist auch auch gut, das zu lernen. Nur so lernen Kindern, dass es auch in späteren Beziehungen durchaus legitim ist, Dinge nicht zu wollen und mit Überzeugung auch „Ja“ und „Nein“ sagen zu können.
Kinder brauchen ihre Eltern erwachsen, nicht als Gleichgesinnte. Das heißt:
Kinder wollen Eltern, die Verantwortung übernehmen, welche auch ‚Nein‘ sagen, die ihre eigenen Grenzen klarmachen. Sie brauchen keine Kumpels und keine Eltern, die Angst davor haben, ‚Nein‘ zu sagen. Sie brauchen Eltern, welche auch eine konstruktive Auseinandersetzung nicht scheuen. Kinder brauchen Eltern, welche ihr Kind auch dann lieben, wenn es „nicht lieb“ ist.